Kunst ist die Freude am Schönen
Ein Kommentar zur Schönheit der Kunst von Otto Hans Ressler, Auktionator und Geschäftsführer der RESSLER KUNST AUKTIONEN.
Henri Poincaré, einer der bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit, hat die Behauptung aufgestellt, nicht Wissensdurst motiviere Wissenschaftler, sondern die Freude am Schönen: „Ich spreche hier nicht von der Schönheit, die aus der harmonischen Ordnung der Teile hervorgeht. Diese harmonische Ordnung gibt den schwankenden Erscheinungen, die unseren Sinnen schmeicheln, ein Rückgrat, und ohne diesen Halt wäre die Schönheit dieser flüchtigen Träume nur unvollkommen, weil sie unbestimmt und vergänglich wäre. Die intellektuelle Schönheit hingegen genügt sich selbst, und ihretwegen, mehr vielleicht als um des künftigen Wohles der Menschheit, verurteilt sich der Gelehrte zu langem und mühsamem Arbeiten.“
Man kann nicht umhin, zur Auffassung zu gelangen, dass die Gegensätze zwischen Wissenschaft und Kunst viel kleiner sind als zumeist unterstellt. Künstler (und auch Sammler) suchen nach neuen Formen, nach neuen Bildern, nach neuen Vorstellungen der Welt, weil sie sie schön finden, und weil sie an dieser Schönheit Vergnügen haben. Und ihre Schönheit erhalten diese Formen, diese Bilder, diese Vorstellungen, weil sie aus einem Nachdenkprozess entspringen, der aus purer Freude um seiner selbst betrieben wird.
Dieses intellektuelle Vergnügen, verbunden mit einer Obsession für neue Fragestellungen, ist, wie ich glaube, das stärkste Motiv, das Künstler antreibt. Aber nicht nur sie: Freude und Vergnügen an dem, was wir tun, und Neugier für das, was wir dabei zu entdecken vermögen, sind Ansporn für jeden von uns. Für Victor Frankl ist es die grundsätzliche Konstellation des Menschen, ja des Menschlichen schlechthin: „Wovon der Mensch zutiefst und zuletzt durchdrungen ist, das ist weder Wille zur Macht noch Wille zur Lust, sondern Wille zum Sinn. Und auf Grund eben dieses seines Willens zum Sinn ist der Mensch darauf aus, Sinn zu finden und zu erfüllen.“
Künstlerinnen und Künstler finden und erfüllen diesen Sinn in ihren sinnlichen Werken. Aber das scheint ihnen nicht zu genügen. Es scheint ihnen nicht zu genügen zu wissen, dass es diesen Sinn gibt. Sie wollen ihn auch mit anderen Mitteln als jenen ihrer Kunst ergründen, sie wollen ihn in seine Einzelteile zerlegen, sie wollen ihn verbalisieren, sie wollen genau wissen, woher er kommt und wie er wirkt.
Der gute Sammler, hat Josef Mikl einmal gesagt, lese nicht zufällig die besseren Bücher und höre nicht zufällig die bessere Musik. Wer sich mit Kunst auseinandersetze, komme nicht umhin, auch in der Literatur, in der Musik, in der Politik, ja selbst im Alltag höhere Ansprüche zu stellen. Und das geschehe nicht aus intellektueller Eitelkeit, sondern weil es als Vergnügen empfunden werde, den Dingen den richtigen Stellenwert zu geben. Kennerschaft bestehe nicht allein im Erkennen von Künstlern und Stilen und Epochen und ihrer Qualität; Kennerschaft bedeute, in der Lage zu sein, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen.
Sammler besitzen ein ausgeprägtes Sensorium für Werte; sie kennen das ebenso sinnliche wie intellektuelle Vergnügen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie entwickeln eine immer stärker werdende Begeisterung für das, was sie tun. Sammler sind Genussmenschen; sie genießen die intellektuellen Herausforderungen von Kunst und sie genießen das Erlebnis der Schönheit von Kunst.
Josef Popper, ein von Albert Einstein besonders geschätzter Sozialreformer aus Wien, formulierte 1901 in einer Schrift seinen Kulturbegriff als die Summe aller Äußerungen und Betätigungen von Menschen, die eine Erhöhung des Glücks zur Folge haben. Was er über den technischen Fortschritt schrieb, stellte er nicht zufällig der Kunst und ihrer Bedeutung gegenüber:
„Man sagt, die Fortschritte in der Wissenschaft …. seien eine Forderung der Vernunft, jene der Technik eine Forderung unseres Nutzens und unserer Bequemlichkeit; aber …. ich behaupte: Beide, sowohl die wissenschaftliche wie auch die technische Tätigkeit, dienen auch zur Befriedigung unserer Empfindungen, und zwar unserer ästhetischen Empfindungen, wie das seit jeher die Kunst zu bewirken imstande war.“
Diese ästhetischen, sinnlichen, das Gemüt bewegenden Aspekte sind allein schon deshalb so wichtig, weil sich daraus moralische und ethische Konsequenzen ableiten. Die Gemeinsamkeiten zwischen Kunst und Wissenschaft mögen überraschen; aber neben den offensichtlichen Unterschieden – vor allem jenen der praktischen Anwendung – gibt es eben auch wesentliche Parallelen.
Natürlich ist jedem von uns klar, dass man mit einem Gedicht niemanden töten kann, was sich von vielen technischen Errungenschaften nicht behaupten lässt. Aber es hat sich mehr als einmal in der Geschichte erwiesen, dass eine spitze Feder tödlicher als das schärfste Messer sein kann, und ein Wort oder ein Bild mächtiger als eine Waffe.
Und deshalb gibt es so etwas wie eine (moralische) Verantwortung nicht nur auf Seiten der Wissenschaft, sondern ebenso auf Seiten der Kunst; auch und gerade weil die Kunst „alles darf und nichts muss“. Denn „jede neue ästhetische Realität präzisiert die ethische. Denn die Ästhetik ist die Mutter der Ethik. Die Begriffe schön und hässlich sind ästhetische Begriffe, die den Kategorien gut und böse vorausgehen. In der Ethik ist gerade deshalb nicht alles erlaubt, weil in der Ästhetik nicht alles erlaubt ist.“
Josef Brodsky, der 1996 verstorbene russisch-amerikanische Dichter, spricht hier etwas von sehr weit reichender Bedeutung aus: Am Anfang unseres wahrnehmenden und sinnlichen Lebens stehe eine ästhetische Wahl, und bei dieser Wahl orientierten wir uns an der Schönheit, die wir erfassen. Und erst diese Art der Wahrnehmung werde zur Quelle unserer Moral.
Was läge daher näher, als uns auf diese Fähigkeit zur sinnlichen Erkenntnis der Wirklichkeit zu besinnen: „Je reicher die ästhetische Erfahrung eines Individuums, desto unbeirrbarer sein Geschmack, desto präziser sein moralisches Urteil, desto größer seine Unabhängigkeit.“ (Brodsky)
Der Zusammenhang zwischen Geschmacksbildung aufgrund ästhetischer Erfahrungen und der Fähigkeit, souveräne moralische Entscheidungen zu treffen, mag im ersten Augenblick überraschen, ja sogar erschrecken. Aber wenn er stimmt, bedeutete es, dass alle Erziehung viel stärker darauf abzielen sollte, unsere ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit zu vertiefen. Und das geschieht auf keine Weise eindringlicher, nachhaltiger und besser als in der Auseinandersetzung mit Kunst. Kunsterziehung sollte unter diesem Gesichtspunkt einen ganz neuen Stellenwert erhalten.
Denn anthropologisch gesehen, erklärte Josef Brodsky, sei der Mensch zunächst ein ästhetisches und erst dann ein ethisches Wesen. Deshalb sei die Kunst auch nicht ein Nebenprodukt der Entwicklung der Art, sondern es sei genau umgekehrt: Wenn das, was uns von den übrigen Spezies unterscheide, die Schriftsprache sei, die Kunst sei, so müssen Literatur und Kunst die höchsten Formen unseres Ausdrucks sein. Oder, vereinfacht gesagt: Die Bestimmung unserer Art.