Kunst heißt Veränderung

Otto Hans Ressler, Auktionator und Geschäftsführer der „RESSLER KUNST AUKTIONEN“, über die unausweichlichen Veränderungen, welche die Kunst auslöst.

Die Aufgabe der Kunst ist Veränderung. Kunst ist dazu da, alternative Vorstellungen von Realität zu entwickeln und damit neue Wirklichkeiten zu erschaffen; sie dient dazu, Wahrnehmungsmuster – und damit Denkmuster – und damit Handlungsmuster – zu verändern.

Ihre Aufgabe ist es, Fragen zu stellen, ja infrage zu stellen. Kunstwerke werden, hat Leonardo da Vinci einmal gesagt, nicht mit dem Pinsel, sondern mit dem Kopf gemalt. Und deshalb ist die Kunstgeschichte eine Abfolge von Weiterentwicklungen, Traditionsbrüchen, Stiländerungen – und damit Revolutionen unserer Sehgewohnheiten.
Jedes Mal, wenn es zu einer solchen Veränderung kommt, brechen heiße Debatten aus, regieren Missverständnisse. Aber am Ende setzt sich das Neue meist durch. Denn in Wahrheit produziert die Kunst keine Bilder, sie produziert Ideen, Haltungen, Perspektiven – und mithilfe der Bilder werden diese Ideen und Haltungen und Perspektiven in die Herzen und Hirne von Menschen verpflanzt.

„Der Mensch, das Augenwesen, braucht das Bild.“
Leonardo da Vinci hat das gesagt: Sehen ist Glauben. Das hat nichts mit bornierter Ungläubigkeit oder müder Skepsis zu tun. Oft würden wir nur zu gerne glauben, uns von der Freude und dem Optimismus derer, die – vermeintlich – etwas gesehen haben, anstecken lassen. Aber wir müssen es selbst sehen! Wir sind darauf konditioniert, nur zu glauben, was wir mit eigenen Augen wahrgenommen haben. Die Augen sind unsere wichtigsten Sinnesorgane. Wir vertrauen auf das, was sie uns zeigen.

Wir glauben, was wir sehen. Wer sieht, sieht ein, sagte einst Kokoschka. Nur was wir sehen, erleben wir nicht mehr als Fiktion, sondern als Wahrheit: Jetzt erst wissen wir es wirklich. Ohne Bilder gibt es keine Möglichkeit, diese Einsicht zu gewinnen.
Denn Bilder sind Botschaften. Sie verfügen zwar über keine Worte; aber sie bedürfen der Worte auch nicht. Bilder sind Botschaften, die verbal gar nicht mitteilbar wären. Auch der intellektuellen Auseinandersetzung über Bilder sind damit Grenzen gesetzt.

Wenn Josef Albers, einer der ganz Großen des letzten Jahrhunderts, erklärt hat, man sehe die Kunst gar nicht an, sondern die Kunst sehe einen an, dann meinte er damit, dass es an uns liege, an unserer Aufnahmebereitschaft, an unserer intuitiven Empfänglichkeit, ob und was wir bei der Betrachtung eines Kunstwerks entdecken und empfinden.

Erleben, Empfinden, Erfahren, das kann uns niemand abnehmen. Kein anderer Mensch kann Maßstab dafür sein, was ein Bild für uns bedeutet; welche Gedanken es in uns hervorruft; welche Gefühle es in uns weckt; woran es uns erinnert.
Die von der Kunstwissenschaft entwickelte Bildbeschreibung ist nur ein (unzureichender) Versuch, uns bei dieser Begegnung zu begleiten. Und selbst, wenn man sämtliche Theorien über einen Künstler, über einen Stil, über ein Werk gelesen hätte, genügte das nicht. Denn sie alle teilen die Erinnerungen nicht, die nur wir selbst haben; sie wissen nichts von den Gefühlen, die nur wir selbst empfinden.
All das Wissen über Kunst und Künstler hat gegenüber der eigenen Fähigkeit, zu sehen und damit etwas zu entdecken, etwas zu erfahren, den uneinholbaren Nachteil, nur über Worte zu verfügen. Und Worte genügen nicht. Worte reichen nicht aus, wenn es um Bilder geht.

Denn was ist Kunst? Es gibt unendlich viele Antworten auf diese Frage. Aber die eine, richtige, gültige Antwort gibt es nicht. Es kann sie gar nicht geben. Die Frage ist falsch gestellt. Und zwar nicht nur, weil die Kunst selbst die Antwort in die Irre führt, sondern weil uns die Antwort möglicherweise gar nicht weiter brächte. Wir irren, wenn wir glauben, dass es darauf ankomme zu wissen, was Kunst ist; wir verbinden damit die völlig falsche Erwartung, wir könnten Kunst verstehen, wenn wir wüssten, was sie ist.
Denn es sind eine Fülle von Dingen, die die Kunst ausmachen: Es sind die Motive, die dargestellt werden, der Stoff, der Inhalt, die Botschaft, die zum Ausdruck gebracht werden soll. Es sind die Farben und Formen, alles, was im Kunstwerk Gestalt erhält. Es ist der Künstler mit seiner Biografie, und wir selbst mit unserer Biografie, wenn wir ein Kunstobjekt betrachten. Es ist die Zeit, in der und aus der heraus wir es tun. Es sind die wirtschaftlichen, sozialen, politischen, religiösen, kulturellen Bedingungen, unter denen Kunst entsteht – und gesehen wird. Es ist das Wissen, das wir über Kunst entwickelt haben, es sind die Kunstgeschichte und die Kunsttheorien.

Aber so bedeutsam all dies ist: Ist es auch bedeutsam für die Kunst selbst? Hängt die Wirkung eines Kunstwerks wirklich davon ab, was wir darüber wissen? Muss man, um anders zu fragen, wissen, wie man atmet, um Luft zu bekommen?
Denn man kann die Motive, die dargestellt werden, die Botschaft, die zum Ausdruck gebracht wird, man kann die Farben und Formen, den Künstler und seine Geschichte, ja sogar uns selbst und unsere eigene Geschichte, die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, religiösen und politischen Bedingungen einer Zeit, man kann die Kunstgeschichte und die Kunsttheorien verstehen – und dennoch keine Ahnung haben, was Kunst bedeutet.
Denn die Motive, der Stoff, der Inhalt, die Botschaft, die Farben, die Formen, der Künstler, seine Biographie, unsere Biographie, die Zeit und die Zeiten davor, die Kunstgeschichte und die Kunsttheorien, all das ist nicht das Wesen der Kunst. All das erklärt nicht, weshalb die Kunst die Kraft besitzt, die Sichtweise auf eine Gesellschaft – und damit die Sichtweise dieser Gesellschaft, und damit die Gesellschaft selbst – zu verändern. All das erklärt nicht ihr subversives Potential, Wissenschaft, Pädagogik, Medizin, Ökologie, Wirtschaft, kurz alle Optionen des Denkens und Handelns der Menschheit, zu verändern. Es erklärt nicht die unbezwingbare, befreiende Kraft der Kunst.

Um Kunst erfahren und erleben zu können, müssen wir sie gar nicht verstehen. Denn Kunst zu erfahren, Kunst zu erleben, das steckt in uns. Jeder Mensch ist ein Künstler,  hat Joseph Beuys einmal gesagt. Wir alle tragen das Künstlerische in uns – in der Art, wie wir die Welt wahrnehmen. Wir sind nicht nur befähigt, Kunst zu produzieren; mehr noch sind wir zur Wahrnehmung befähigt; zu einer Art der Wahrnehmung, die künstlerisch ist. Niemand könnte sonst das Künstlerische einer Gestaltung erleben.
Nicht die Antwort auf die Frage „Was ist Kunst?“ ist wichtig. Wichtig ist eine ganz andere Frage. Und die Antwort darauf gibt die Kunst selbst – und zwar dadurch, wie sie ist! Die Kunst ist die Antwort auf Frage nach der Kunst. Es geht darum, und nur darum, wie etwas gestaltet wurde, wie es uns anspricht, wie es uns erscheint, wie es für uns zugänglich wird. Es geht darum, wie etwas durch ein Kunstwerk zu einem Wert für uns wird.
Wir sind zu dieser Wahrnehmung befähigt. Es ist eine künstlerische Fähigkeit, wie wir Gegenstände, unsere Umwelt, andere Menschen reflektieren. Wir tun das ununterbrochen, wir ziehen ununterbrochen unsere Schlüsse. Gäbe es diese Befähigung zur Wahrnehmung nicht, gäbe es auch keinen Grund, über die Gegenstände und unsere Umwelt und andere Menschen nachzudenken.

Natürlich wäre die Welt auch ohne Kunst vorstellbar. Wir können das Was der Kunst auch außerhalb der Kunst finden. Es braucht sie nicht, um die Motive, die Stoffe, die Inhalte, die Botschaften zu vermitteln. Ginge es bei der Kunst nur um das, was sie mitteilt, um das, was sie uns an Erkenntnissen bringt, wäre der Aufwand mit dem Kunstwerk einigermaßen übertrieben. Da wäre es einfacher und besser, die Künstler würden sich hinsetzen und sagen, was sie zu sagen haben.

Aber es geht um das Wie! Es geht um die Art und Weise, wie etwas gestaltet wurde, denn nur dadurch können wir wahrnehmen, worum es geht. Wir können den Sinn nur erfassen durch unsere Sinne – das ermöglicht Kunst!
Dass wir einen Sinn nur erfassen können durch unsere Sinne, hat Folgen nicht nur für das Verstehen der Welt, sondern ebenso für unsere Fähigkeit zur Wahrnehmung. Indem Kunst zu den Sinnen spricht, entwickelt sie unsere Fähigkeit, das Wie im Sinnlichen bewusst zu erleben. Kunst macht uns das Wie unseres Wahrnehmens bewusst.
„Kunst macht sichtbar“, hat Paul Klee dieses Phänomen einmal erklärt. Das Wie der Kunst, die Art und Weise der Kunst, das Künstlerische der Kunst, macht sichtbar, wie wir sehen. Wir werden uns bewusst, dass unsere Sinne nicht allein Empfangsgeräte für Informationen, für unser Denken sind. Kunst hilft uns, unsere Sinne zu entfalten. In der Kunst liegt die Möglichkeit, Wahrnehmen bewusst als produktive Tätigkeit zu erleben und zu entwickeln.

Im Gegensatz zum logischen Denken behandeln wir das Wahrnehmen allzu oft wie ein Stiefkind. Wenn wir wahrnehmen, nehmen wir in der Regel nicht wahr, wie das geschieht. Wenn wir etwas sehen, verschwenden wir keinen Gedanken an das Auge, das sieht. Kunst macht uns bewusst, dass Wahrnehmen etwas Wichtiges ist, etwas Sinnliches, etwas, das alles verändern kann; denn durch die Kunst wird der Akt der Wahrnehmung reflektiert, und das heißt letztlich: dass wir schärfer, genauer, weiter, tiefer, konkreter, komplexer, lebendiger empfinden.
Kunst wirkt durch die Sinne für die Sinne. Kunst gestaltet Wahrnehmung.

Warum das so wichtig ist, wurde in einer Szene aus dem Film „Der Club der toten Dichter“ auf den Punkt gebracht. Der Film handelt von einer Abschlussklasse an einem amerikanischen Internat; sein Held ist ein Lehrer für englische Literatur, der seinen Schülern zu vermitteln versucht, dass es die Aufgabe jedes Menschen sei, etwas zum Leben beizutragen, das nur er beitragen kann.
Mr. Keating fordert seine Schüler zu selbständigem Handeln auf, zu freiem Denken, dazu, die Welt immer wieder aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Sie sollen sich mehr zutrauen, ausloten, wo ihre Möglichkeiten liegen – und ihre Chancen nützen. Er will seinen Schülern nicht nur die Welt der Poesie und der schönen Dinge des Lebens nahe bringen; er macht ihnen klar, dass Kunst und Poesie die Schlüssel sind, um herauszufinden, was in jedem von ihnen steckt, wozu jeder von ihnen fähig ist, worin der Sinn ihres Lebens besteht.
Poesie und Kunst seien nichts, das man lernen und wiederholen müsse; denn ein Gedicht sei nicht ein gelungenes Versmaß, nicht eine an bestimmte Regeln gebundene Vermittlung eines Inhalts, einer Geschichte: Man müsse sie mit dem Herzen nachvollziehen, man müsse sie in sich entdecken, man müsse sie leben, erleben. Man müsse sie zu einem Instrument für sich selbst machen; zu einem Instrument, mit dem man Gefühle ausdrücken und vermitteln könne.
„Wir lesen und schreiben Gedichte nicht zum Spaß. Wir lesen und schreiben Gedichte, weil wir zur Spezies Mensch zählen. Und die Spezies Mensch ist von Leidenschaft erfüllt. Medizin, Jura, Technik sind notwendig. Aber Poesie, Schönheit, Romantik, Liebe sind die Freuden unseres Lebens.“
Er zitiert den amerikanischen Dichter Walt Whitman: „Die immer wiederkehrenden Fragen: Wozu bin ich da? Wozu nützt dieses Leben?“ Und seine Antwort: „Damit du hier bist. Damit das Leben nicht zu Ende geht. Damit das Spiel des Lebens weiter besteht und du deinen Vers dazu beitragen kannst.“
Das ist, was die Kunst für uns tut.